Stephan Lehberger

Scheitern als Gelingen

 „Damit gehöre ich in das Buchkapitel der Nichttipper, die sich in zwei Sorten scheiden lassen, die nichttippenden Nichttipper und die tippenden Nichttipper: Die nichttippenden Nichttipper, wozu auch ich zähle, tippen eben überhaupt gar nicht. […] Aber: Da gibt es den Berliner Elektriker, der systematisch nicht Lotto spielt, dennoch wöchentlich hundert Scheine ausfüllt, aber nicht abgibt. Er freut sich dann über die Nichtgewinne, behauptet gleichwohl, Ziel sei, sich einmal in seinem Leben richtig zu ärgern! Desgleichen ein Schäfer aus Münsingen. Als dieser dann einmal beim Nichttippen doch sechs Richtige tippt, gibt er gleichwohl Lokalrunden, als habe er getippt.“ - ‚Mischwald‘, Thomas Kapielski

 

Alles Leben ist Scheitern lernen. Der Erwerb jeder einzelnen Fähigkeit, vom Säuglings- bis ins hohe Alter, ist eine Aneinanderreihung vieler vormals schief gegangener Versuche. Der Löffel in der Babyhand trifft mit seiner Breiladung erst etliche Male Kinn, Nasenwurzel oder die Wange, bevor der Nachwuchs geschickt genug mit ihm umgehen kann. Dasselbe gilt für Spracherwerb, das Erlernen des aufrechten Gangs, Flöte spielen - im Grunde für alles, was der Mensch nach seiner Geburt erst lernen muss. 

 

Dabei stellt der Mensch im großen Garten der Natur eine Einzigartigkeit dar. Werden andere Jungtiere von ihrer Mutter fast eigenständig überlebensfähig geboren, ist das menschliche Neugeborene sehr viele Jahre auf die Fürsorge und den Wissenstransfer seiner Eltern angewiesen. Besonders pikant: Weil alles, inklusive einem selbst, im Wandel ist (—> Heraklit), kann man de facto nie ausgelernt haben, was jeder Handwerksmeister weiß. In zünftiger Tradition ging das im bekannten Dreischritt von Lehrling, Geselle und Meister. Der Lehrling hat die Fähigkeiten zu lernen, der Geselle muss beweisen, dass er sie korrekt anwenden kann und der Meister ist derjenige, dem die Erkundung neuer Methoden, Techniken und Anwendungen zukommt. Der Meister ist also derjenige, der ‚experimentieren‘ darf, von dem also erwartet wird, dass er einen intelligenten Gebrauch vom Scheitern machen kann. Wenn der Meister bei einem seiner ‚Experimente‘ scheitert, dann ist etwa ein Stück Holz ungünstig zersägt oder ein Klumpen Metall dahin. 

 

Brisanter wird es etwa, wenn man den Blick auf die Profession des Mediziners richtet. Folgt man auch hier dem Dreischritt von Student, jungem Assistenzarzt bis zum Professor am Beispiel eines Chirurgen wird klar, dass dem Scheitern hier eine ethische Dimension beigemessen werden muss. Der Student lernt die Grundlagen, der praktizierende Arzt wendet seine Operationsfähigkeiten auf dem state of the art an und der Professor für Chirurgie kann Operationstechniken und -instrumente weiterentwickeln oder versuchen einen ganz neuen Weg einzuschlagen, was mit Risiken für den Patienten verbunden sein dürfte. Scheitern wird hier existentiell, kann Sein und Nichts scheiden. 

 

Bei dem deutschen Psychiater und Philosophen Karl Jaspers ist das Scheitern ein schicksalhaftes Erlebnis, das der Mensch dazu benutzen soll, um aus ihm „den Weg zum Sein zu gewinnen“, weil das Scheitern ihn vor das Nichts stellt, weil seine Welt und alles Seiende im Scheitern dahinschwindet, ja zerfällt (‚zerscheitern‘ frühneuhochdeutsch für ‚in Stücke gehen‘, etwa bei einem Schiffbruch). Scheitern ist also keine Endstation, keine Sackgasse, sondern vielmehr notwendig, also eine Not in Entwicklung wendend. Dass das Individuum daran häufig zu verzweifeln droht gehört zum Programm, was jeder Lao-Tse-kundige Stabhochspringer weiß, nämlich dass es zum Hindernis gehört, dass er es erstmal nicht überwinden kann, sonst wäre es ja keins. 

 

Dabei ist die häufig nachgequatschte Trennung von Natur und Kultur (des Menschen) im Hinblick auf die Dynamik des Scheiterns kaum überzeugend, denn selbst die Natur verfährt nach diesem Prinzip. Nichts anderes als eine Vermittlung zwischen Scheitern und (vorläufigem) Gelingen steckt in Darwins Dreischritt von Mutation, Selektion und Restabilisierung. Ohne Zweifel kennt die Natur auch eine Schar unglücklich verlaufener Versuche. So hat etwa die Gattung des Riesenhirschs, dessen überdimensioniertes Geweih besonders attraktiv auf die Hirschkühe gewirkt haben muss, gerade durch dieses artspezifische Merkmal, das riesige Geweih, mit seiner Existenz bezahlt, weil er durch die immer dichter bewachsenen Wälder Germaniens nicht mehr flink manövrieren, also flüchten konnte. Hier deutet sich vage an, was der Ästhetiker Bazon Brock mit einer seiner markanten Setzungen ‚durch Erfolg gescheitert‘ gemeint haben dürfte, ich werde am Ende des Texts nochmal darauf zurück kommen. 

 

Für die Sphäre der menschlichen Aktivitäten bleibt einstweilen das Beckett’sche Zitat verbindlich: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“. Es kommt also darauf an im Scheitern jene produktive Kraft zu entdecken, die die Menschen dazu befähigt zu erkennen, dass wirklich nur das ist, worauf sie keinen Einfluss haben. Wer sich also mit der Wirklichkeit befasst hat, findet im Scheitern den wichtigen Beweis dafür. Hilfestellung kann man sich bei Künstlern und Wissenschaftlern als Meistern des Scheiterns aneignen. 

Durch Karl Popper lernte die moderne Wissenschaft, dass nur das Verfahren der „Falsifikation“ wirklich tragfähig ist. ‚Conjectures and Refutations‘ heißt also kühne Hypothesenbildung selbst aus wahnwitzigster Entdeckerreise, um darauf kühle Zurückweisung/Widerlegung folgen zu lassen. (Wissenschaftliche) Wahrheit ist also genau das, was bisher alle Versuche der Falsifizierung überstanden hat. Wenn man bedenkt, dass die Träger dieser Idee, die Wissenschaftler, Menschen wie du und ich sind, mag diese Praxis bemerkenswert masochistisch erscheinen. Wer widerlegt im Alltag schon gerne seine eigenen Stammtischparolen? Als erkenntnistheoretisches Verfahren, als Beitrag zu einer haltbaren Wissenschaftstheorie gilt dennoch: Das naturwissenschaftliche Experiment ist gelungen, wenn es scheitert, die eigene Annahme folglich als wiederholbar widerlegt gelten muss. 

 

In der Kunst, die hier besonders berücksichtigt werden soll, stellt sich der Sachverhalt ganz ähnlich dar. Der Künstler ist bei seiner Arbeit auf dem langen Pfad des Scheiterns gleich mit mehreren ‚Bürden‘ beladen. 

 

Zum ersten kann jeder professionell Gestaltende davon Kunde tun, dass die Arbeitsmaterialen seiner Wahl, ganz gleich ob es Marmor, Ton, Messing, Graphit oder Tempera seien, ihm so viel ‚Widerstand‘ entgegen setzen, dass er seinen Gestaltungsmutwillen nie 1:1 auf sie übertragen kann. Ein über sein Tun aufgeklärter Künstler weiß schmerzlich-süß, dass er sein Material nie ganz beherrschen kann, doch das bildet auch den Glutkern des Reizes. Wie schnell würde sich ein Skulpteur gelangweilt vom Sandstein wenden, ihn vielleicht sogar als Unheilsstein verfluchen, wenn ihm bald alles gelänge. Erst die Widerständigkeit des Materials, die Widerständigkeit der Welt gegen unseren willkürlichen Zugriff entfacht den gestalterischen Ehrgeiz des Künstlers. Die Vorstellung des Gelingens im romantischen Sinne eines ‚vollendeten‘ Werks muss als ein Phantasma im günstigsten und als ein Fall von kreativem Fundamentalismus im gravierenderen, entschieden zurückgewiesen werden. Sehr wohl scheinen aber im Prozess der Creatio jene kleinen Momente des Gelingens auf, etwa wenn ein bestimmtes Detail im Gesicht einer gemalten Figur ‚passt‘, sich harmonisch in eine Komposition fügt. An solchen Momenten kann sich der Künstler jedoch nicht ‚übersattfressen‘, nicht ‚vollsaufen‘ in einer Feier seiner eigenen Genialität. Nach Einbruch der Nüchternheit bleibt die Arbeit des Künstlers die Arbeit am unendlich rauen Stein. 

 

Eng damit verbunden ist das zweite Erschwernis, das auch jeder Nicht-Künstler leicht nachvollziehen kann: Es gibt eine ganz grundsätzliche Diskrepanz zwischen dem was wir denken und der Repräsentation dieser Gedanken, etwa zwischen dem was wir denken und dem was wir sagen. In der Kunst lässt sich das Problem als eine unüberwindbare Kluft zwischen einem gedanklichen Konzept und seiner bildsprachlichen Vergegenständlichung fassen. Anschauung und Begriff, Inhalt und Form, Bewusstsein und Kommunikation können niemals zur Identität gebracht werden. Bei Kant klingt das ungefähr so: Das nicht Darstellbare als Nicht-Darstellbares darstellen. Hä? Doch, doch! Die nicht gelingende, aber angestrebte Gestaltung, muss in ihrer Undarstellbarkeit, Gescheitertheit dargestellt werden. Es reicht als Künstler nicht aus einfach zu scheitern, etwas schlicht nicht ‚hinzukriegen‘, sondern man kann dieses Scheitern als Ausweis dafür, dass man sich an etwas Neues gewagt hat, ins Kunstwerk selbst integrieren. Das bisher unbekannte Weltenzimmer als terra incognita ist mit mindestens 14 Kaminski’schen Archetypen des Scheiterns tapeziert. 

 

Drittens darf angenommen werden, dass nur der gescheiterte Künstler wirklich etwas Substantielles über den Zustand der Welt herausgearbeitet hat. Klarer wird diese kühne Behauptung, wenn man sich vergegenwärtigt, in welcher Tradition die Verfemung der Kunst als ‚entartet‘ eigentlich steht. Darin artikuliert sich grundsätzlich die Abweichung zwischen der allgemeinen Erwartung an die Künstler, einem normativen Kunstverständnis einerseits und der tatsächlichen Darstellung eines Sujets durch ein Kunstwerk andererseits. Bazon Brock schreibt: „Als Künstler fühlte sich derjenige bestätigt, dem andere vorhielten, gescheitert zu sein.“ Wer als Erfüllungsgehilfe eines allgemeinen Kunstgeschmacks diesen einfach schmeichelnd durch seine Werke bestätigte, wird zum Gefälligkeitskünstler eitelster Gesinnung. Dazu Brock weiter: „Im Scheitern, nach akademischen Regeln ein vorgegebenes Kunstverständnis durch Werke zu verifizieren, sieht der moderne Künstler das Gelingen seiner Arbeit; denn es käme auf ihn als Individuum gar nicht an, wenn er nur eine normative Ästhetik oder Kunsttheorie durch seine Arbeit bestätigen müßte.“ 

 

Diese drei Bürden haben den Künstlern schwer zugesetzt, ihre Abweichungspersönlichkeiten noch präsenter werden lassen, weshalb sich unter ihnen unendlich viele Biographien exzessiver Lebensführung finden. Im Scheitern ihrer bürgerlichen Existenz lernten immer mehr Künstler die Voraussetzung für wahrhaft radikales Arbeiten zu sehen. 

 

Davon ist Philipp Kaminski einstweilen verschont geblieben! Er ist heute hier-hier und gibt uns 14 Beispiele des Scheiterns. Wir wünschen ihm bei seinem weiteren Experimentieren auf dem dünnen Eis der Künste viel Erfolg, also zahllose Möglichkeiten produktiv zu scheitern. Eine erfolgreiche Ausstellungseröffnung scheitert übrigens dann am eigenen Erfolg, wenn so viele interessierte Sektglasschwenker das kunstsinnige Oval ihres Gesichts der allgemeinen Betrachtung überlassen, dass sich jeder nur noch im Weg steht und kein Blick mehr auf die ausgestellten Arbeiten fallen kann. Dann heißt es: Glückwunsch! Durch Erfolg gescheitert.

 

Von Stephan Lehberger

Alexander Neumann

Die Großen scheitern – die Kleinen versagen!

Triumph und Scheitern sind die Merkmale der Helden. Die Enthauptung Störtebekers, der 11 seiner Freibeuterkumpanen gerettet haben soll, als er wahrlich kopflos an ihnen vorbeigeschritten ist, beschreibt ein Phänomen, welches heute gang und gebe ist…

Angeblich soll man ihm ein Bein gestellt haben, sonst wäre er womöglich die ganze Küste entlang gelaufen!

Im großen Scheitern, dem Tod, noch einen Triumph, gewissermaßen im „Vorübergehen“ draufzusetzen, stellt diesen Helden an die Seite von Jesus Christus, der als erster Raumfahrer in die Geschichte eingegangen ist und gleich beim Erstflug aus vernagelter Kreuzposition erfolgreich war!

Die wohl größere Leistung Störtebekers allerdings, stellte sein ungeheures Trinkvermögen dar! So soll er in einem Zug 4 Liter Bier oder Wein in seinen Körper hinein gestürzt haben, was ihm schließlich den Namen „stürzt den Becher“, also Störtebeker eingebracht hatte. Da erscheinen die bayrischen Maßkrug-Trinker freilich als lächerliche Versager.

Jedenfalls verstanden die Kaufleute der Hanse keinen Spaß mit Störtebeker und schossen den Hauptmast seines Schiffes „Toller Hund“ mit einer Kanonenkugel, abgegeben vom Schiff „Bunte Kuh“, einfach weg…

Seine Freibeuter Schätze, Gold, Silber und Kupfer, fand man in der Doppelwand seines Schiffes.

Kein schlaues Versteck, ähnlich dem Brauch, Geld-Umschläge im Wäscheschrank zwischen der Bettwäsche zu verstecken.

 

Scheitern ist der erste Schritt in die richtige Richtung!

Ötzi, der erste nachweisliche Alpentourist, hatte sich viel vorgenommen, er überquerte von den Dolomiten kommend, die südlichen Alpen bis zum Tiserjoch, Richtung Ötztal, wo er schließlich sein Ende fand… Er sank in den tiefen Schnee und weitere 5000 Jahre später fand man ihn. 

Auch der schnell herbeigeeilte Reinhold Messner stattete dem Fundort einen Besuch ab, konnte treffsicher Ötzis Tod feststellen und verschätzte sich bei der Datierung um unwesentliche 1000 Jahre. 

Ötzis Ausrüstung, seine Kleidung und Gegenstände, die er bei sich trug, selbst die mit Gras ausgepolsterten Schuhe, seine Axt, Messer und Spieße, zeigten seine gründliche Vorbereitung für das Vorhaben. Später stellte sich heraus, dass er eine Pfeilspitze unter dem linken Schulterblatt hatte und fremdes Blut an der Kleidung… War er ein Mordopfer, gescheitert an der Mordlust eines Täters, oder war er selbst ein Täter, ein Gejagter, der seiner Strafe sich nicht entziehen konnte und gerichtet wurde?

Wir wissen es nicht, aber wir lieben ihn, unseren Ötzi!

 

Die Liebe ist ein Wagnis ins Ungewisse

Wenn man eine Pfeilspitze in der Herzgegend seines Körpers verspürt, sollte man die testamentarischen Vorkehrungen bereits getroffen haben, man sollte auch seinen Frieden mit den Nachbarn und anderen Feinden gemacht haben. Denn nun, mit dem Tabula rasa, der gänzlichen Unordnung, bleibt kein Stein auf dem anderen. Liebgewordene Angewohnheiten und die sattsam bekannte Trägheit, die abgeschabte Tafel und durchgebeulten Denkansätze wollen nicht mehr mitmachen… Dieser Pfeil eines scheinbar arglosen Knaben, schier willkürlich in der eigenen Brust verfangen, erzeugt eine Verletzung aller Schutzzonen, zerreißt die Halteseile und wirft das Schiff aus dem Hafen, es kentert und lässt die angestauten Güter auf Nimmerwiedersehen im Ozean untergehen! Weit, weit oben kreisen die Albatrosse und für Momente reißt die Wolkendecke in Fetzten, um sich dann in ein Dunkel zu verwandeln. Bitter das Meer und salzig wie Blut und Tränen, begleitet vom Gebrüll des Muschelhorns von Triton!  Sein behaarter Rücken und der schuppige Schwanz heben und senken sich in den Kaskaden, den Sturzfluten, in denen sich für Momente die Sterne spiegeln, oder ist es das kurzaufschimmernde Perlmutt geborstener Muscheln, die das Meer in seiner unbändigen Wut zerschmettert, weil es niemals etwas hergeben möchte, schon gar nicht das Allerheiligste, was es je besessen hat, die unbeschreiblich schöne, einmalige und niemals wiederkehrende Venus.

 

von Alexander Neumann

© PHILIPP KAMINSKI

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